Trauer braucht einen Ort – egal, wer verstorben ist

Nachricht Söhlde, 12. Juli 2021

Stellungnahme von Pfarramt und Kirchenvorstand Söhlde zum Trauerort vor der Söhlder Kirche

Der Tod eines geliebten Menschen ist eine Grenzerfahrung. Der Tod ist unbegreiflich, unfassbar – niemand weiß genau, was danach kommt, und niemand weiß, wann es einen bestimmten Menschen treffen wird. Unser Sterben liegt – genau wie unser Geboren werden – nicht in unserer Hand.

In der Bibel wird bei alten Menschen oft die Formel verwendet: „Er starb alt und lebenssatt.“ Das mag auf einen Menschen zutreffen, der 75, 80, 90 Jahre oder noch älter geworden ist; gerade dann, wenn der Tod am Ende einer schweren Krankheit steht.

Doch es kommt viel zu oft vor, dass der Tod früher zuschlägt und ein junges Leben ein Ende findet. Wer über die Friedhöfe unserer Dörfer geht, findet immer wieder Kindergräber, oft liebevoll gepflegt und hergerichtet von den Eltern und Verwandten – der einzige Liebesdienst, der an einem toten Kind noch möglich ist. Jedes dieser Gräber sieht anders aus – wie jeder Mensch, der dort begraben liegt, anders war als alle anderen. Trauer ist immer anders – jeder Mensch trauert unterschiedlich, und eine Grabgestaltung, die zu einem Menschen passt, passt zu einem anderen überhaupt nicht. Wer Gräber genauer betrachtet, wird viele Unterschiede feststellen; und oft hat es den Anschein, als seien die Gräber der jung Verstorbenen die individuellsten Gräber von allen.

Wer in diesen Tagen an der Söhlder Kirche vorbeikommt, könnte denken, dort sei ein Grab entstanden, zwischen dem Stromkasten und dem Treppenaufgang. Dem ist nicht so. Doch der einzige Unterschied ist, dass dort kein Mensch beerdigt liegt – alle anderen Merkmale eines Grabes erfüllt dieser Platz: Er erinnert an einen toten Menschen, und er wird von denen, die um ihn trauern, liebevoll gepflegt.

Dieser Ort hat eine lange Geschichte. Es ist uns als Pfarramt und Kirchenvorstand der Kirchengemeinde Söhlde wichtig, unsere Sicht auf diese Geschichte dazulegen:

In der Vergangenheit war das Areal um den Stromkasten häufig verdreckt und unansehnlich – ein Platz, an dem sich junge Leute trafen, die woanders keinen Platz zum Treffen hatten. Sachbeschädigungen in der Umgebung – auch am Eigentum von Kirchengemeinde und Pastor – waren keine Seltenheit: So musste die Scheibe des Söhlder Schaukastens mehrfach ausgetauscht werden, auf dem alten Kirchhof wurden Grabsteine umgeworfen, der Kirchenvorstand musste regelmäßig die Treppe reinigen; auch das Auto eines ehemaligen Söhlder Pastors wurde mehrfach beschmiert und beschädigt. Die Täter konnten in vielen Fällen nicht ermittelt werden.

Zeitweise wurde im Söhlder Kirchenvorstand intensiv diskutiert, den Platz vor dem Gemeindehaus durch Kameras zu überwachen, um zumindest Luthersaal und Pfarrhaus zu schützen.

Im vergangenen November war der Kasten plötzlich schwarz. Der Tod hatte zugeschlagen, mitten am Tag wie ein Dieb in der Nacht, und hatte ein Leben mitgenommen, das noch viele Jahre hätte andauern sollen – das Leben eines jungen Mannes. In seiner Trauer strich irgendjemand den Kasten schwarz und beschrieb ihn mit weißer Schrift. Der unbeschwerte Treffpunkt war zum Gedenkort geworden.

Diese neue Rolle hat den Platz verändert. Wo vorher Scherben lagen, standen nun Grablichter, statt leeren Alkoholflaschen lehnte nun ein Kreuz an dem Kasten. Der Platz wurde sauberer, ordentlicher – und ruhiger.

Der Tod dieses jungen Mannes hat Wunden geschlagen und für unendlich viele Tränen gesorgt – und zugleich half er, eine Brücke zu bauen. Wir als Kirchenvorstand und Pfarramt kamen mit den Jugendlichen ins Gespräch. Wir lernten junge Menschen mit Freude am Leben, mit Ideen und Energie, kennen – junge Menschen, die eigentlich das Leben genossen und nun völlig unverhofft mit dem Tod konfrontiert waren. Sie waren in einer besonderen, unendlich schwierigen Situation: Ihr Freund würde nicht in Söhlde beigesetzt werden, sie würden kein Grab haben, keinen Ort für ihre Trauer.

Was die jungen Leute taten, war zutiefst menschlich. Sie nahmen den Ort, den sie hatten, ihren Treffpunkt – und verwandelten ihn in einen Gedenkort. Wer den Stromkasten schwarz anstrich, bleibt unklar – nach unserer Kenntnis gab es von keiner Seite Bemühungen, in dieser Angelegenheit einen Täter ermitteln zu wollen. Es erging im wahrsten Sinne des Wortes Gnade vor Recht.

Die Berichte über Straftaten, die in der Vergangenheit hier im Dorf begangen wurden und bei denen entweder jugendliche Täter vermutet wurden oder bei denen tatsächlich junge Leute als Täter ermittelt wurden, könnten ein ganzes Buch füllen. Mit Sicherheit entsprechen diese Berichte der Wahrheit. Im Endeffekt haben sie jedoch dazu geführt, dass in den Augen einiger Menschen die Dorfjugend in Söhlde pauschal als gewalttätig, rechtsextrem und gefährlich gilt.

Wenn ich als Pastor oder wir vom Kirchenvorstand den jungen Menschen abends begegnen – vor der Kirche, auf dem Parkplatz am Sportgelände oder woanders – dann tragen sie weder Schlagstöcke noch Feuerwerkskörper oder Molotow-Cocktails. Sie treffen sich einfach und tun, was junge Menschen überall tun: Sie verbringen gemeinsam Zeit, hören Musik, pflegen ihre Freundschaft und tragen ab und zu ihre Streitigkeiten aus. Ihre Musik trifft mit Sicherheit nicht jedermanns Geschmack, und der Vorwurf einer Störung der Nachtruhe oder des Verstoßes gegen Corona-Auflagen mag in manchen Nächten angebracht sein.

Das sind Ordnungswidrigkeiten, keine Straftaten. Vielleicht hat der eine oder die andere von ihnen tatsächlich schon einmal eine Straftat verübt – eine Scheibe eingeworfen, etwas beschmiert, jemanden beleidigt. Aber eben – der eine, die andere. Nicht: Alle. Manche dieser jungen Leute stehen gerade an der Schwelle zur Volljährigkeit – ihnen Ereignisse zur Last legen zu wollen, die fünf Jahre oder länger her sind, ist schlicht absurd.

Doch genau das passiert, wenn jemand schlecht von „der Jugend in Söhlde“ spricht und andere vor dieser Jugend „warnen“ will. Dann verschwinden alle Unterschiede. Dann werden junge Menschen, die sich einfach mit ihren Freunden treffen und Bier trinken, unter Generalverdacht gestellt, drogensüchtig, rechtsextrem, gewalttätig oder sonst irgendwas zu sein. Das können wir als Pfarramt und Kirchenvorstand so nicht hinnehmen. Denn eine solche pauschale Verurteilung widerspricht nicht nur dem deutschen Rechtsgrundsatz der Unschuld bis zum Beweis erwiesener Schuld, sie passt auch nicht zum christlichen Menschenbild. Als Christen sehen wir jeden Menschen als Gottes Ebenbild an. Im Johannesevangelium ist der Satz Jesu überliefert: „Wer unter euch ohne Sünde ist, der werfe den ersten Stein.“ (Johannes 8,7) Dem Lukasevangelium zufolge sagt Jesus: „Seid barmherzig, wie auch euer Vater barmherzig ist. Und richtet nicht, so werdet ihr auch nicht gerichtet. […] Was sieht du den Splitter in deines Bruders Auge, aber den Balken im eigenen Auge nimmst du nicht wahr?“ (Lukas 6,36-37.41)

Das endgültige Urteil über einen Menschen, das wird Gott am Ende aller Tage fällen – und gnade uns Gott, dass es ein barmherziges Urteil sein wird! Denn Jesus hat Recht: Jeder Mensch hat einen Splitter im Auge – wenn es nicht ein Balken ist.

Wer das Recht bricht, das das deutsche Volk sich selbst gegeben hat, wer gegen die Gesetze der Menschen verstößt, der kann nach den Gesetzen der Menschen verfolgt und verurteilt werden – von den Gerichten, die im Namen des Volkes ihr Urteil sprechen. Alles andere steht uns nicht zu. Auf den Punkt gebracht: Wer als Christ pauschal sagt: „Die Dorfjugend in Söhlde ist gewalttätig!“, der handelt nach unserer Auffassung gegen Gott. Denn er stellt sich an Gottes Stelle; er richtet, wo er nicht zu richten hat.

Vor diesem Hintergrund haben wir als Kirchenvorstand den Trauerort vor der Kirche selbstverständlich toleriert. Den Nebeneffekt, dass die Zahl der am Kircheneigentum verübten Straftaten seit November auf Null zurückgegangen ist, haben wir freudig zur Kenntnis genommen und sind für diese Entwicklung dankbar. Wir sind der festen Überzeugung, dass eine gute Zukunft nur dann Wirklichkeit werden kann, wenn wir die Vergangenheit ruhen lassen, miteinander ins Gespräch kommen und gemeinsam nach vorne blicken. Konkret heißt das für uns, den Groll über vergangene Sachbeschädigungen zu vergessen, den jungen Menschen am Stromkasten offen und freundlich zu begegnen und sie als das wahrzunehmen, was sie sind: Junge Menschen, jeder einzelne ein Ebenbild und geliebtes Kind Gottes. Als Pastor und Kirchenvorstand sind wir für diese jungen Menschen - wie für jeden anderen auch – ansprechbar und hören zu.

Vor einigen Wochen hat eine Einzelperson aus dem Dorf den Trauerort am Stromkasten zerstört. Als Kirchenvorstand und Pfarramt wissen wir, wie wichtig Trauerarbeit ist und wie gut es tun kann, seine Trauer mit den Händen abzuarbeiten, etwas zu tun – und sei es, ein Grablicht aufzustellen. Die hinter dieser Tat stehende Einstellung, der Verstorbene habe einen Gedenkort dieser Art nicht verdient, teilen wir nicht. Wir halten es für überheblich und falsch, einen Ort, dessen Gestaltung oder Zweck nicht den eigenen Vorstellungen entspricht, zu zerstören. Zugleich betonen wir, dass für die Beseitigung dieses Gedenkortes eine einzelne Person verantwortlich ist. Andere Menschen aus dem privaten Umfeld der für die Tat verantwortlichen Person mit zu bestrafen und quasi in „Sippenhaft“ zu nehmen, ist nach unserer Auffassung durch nichts zu rechtfertigen.

In der besonderen Situation, dass der junge Mann, dem am Stromkasten gedacht wurde, nicht in erreichbarer Nähe beigesetzt wurde, halten wir es für geboten und wichtig, den jungen Menschen die Fortsetzung ihrer Trauerarbeit zu ermöglichen. Wir haben ihnen daher einen Platz an der Kirchplatzmauer, aber auf kircheneigenem Grund, zur Verfügung gestellt, um ihrer Trauer weiterhin Ausdruck zu verleihen. Dieser Ort ist für viele der Jugendlichen nicht nur ein Ort des Gedenkens, sondern auch ein Mahnmal dafür, wie kostbar das Leben ist und was passieren kann, wenn man leichtfertig mit seinem Leben spielt. Wir teilen diese Sichtweise auf diesen Ort.

Gleichzeitig sind wir uns bewusst, dass die Existenz dieses Ortes nicht alle Probleme aus der Welt schaffen wird. Es wird weiterhin einzelne Jugendliche und junge Menschen geben, die Straftaten verüben; wie es solche Menschen in allen Altersgruppen gibt. Es ist uns jedoch wichtig, darauf hinzuwirken, dass nicht alle Jugendlichen pauschal für die Taten einzelner verantwortlich gemacht werden. Bei der Aufklärung von Straftaten arbeiten wir selbstverständlich mit Polizei und Staatsanwaltschaft zusammen. Wir werden auch weiterhin jede Sachbeschädigung an kirchlichem Eigentum oder privatem Eigentum der Pfarrfamilie zur Anzeige bringen. Wir sind aber der Überzeugung, dass dieser Schritt nur erfolgen darf, wenn eine konkrete Straftat im Raum steht. In allen Stufen vorher ist der Einsatz für ein gutes Miteinander nach unserer Ansicht viel einfacher und zielführender, auch wenn dafür nötig ist, alten Groll beiseitezulegen. Wir freuen uns, wenn möglichst viele von Ihnen und Euch uns auf diesem Weg begleiten und unterstützen.

Pastor Robert Brühl und der Kirchenvorstand Söhlde